16. Kennenlerntreffen

Mein Kind und ich – zwei Welten?

Mit sehr gemischten Gefühlen fahren Michael und ich zu diesem Wochenende nach Attendorn. Unsere Gefühle, die sich zwischen Hoffen, Bangen, Trauer und Zuversicht abwechseln, machen uns scher zu schaffen. Der Todestag von unserem Sohn Nils, der am 20.10.2006 im Alter von 16 Jahren an Leberkrebs gestorben ist, steht so nah vor der Tür.

Als wir in Attendorn ankommen, sind wir angenehm überrascht von der Akademie, in der wir untergebracht sind. Sofort beim Ankommen sehen wir bekannte Gesichter, die uns den Anfang schon leichter machen. Das Tolle ist, wenig später kommen Freunde, die ich, Agnes, in der Kur kennengelernt habe und worauf ich gar nicht vorbereitet war. Das war eine große Freude.

Das Thema dieses Wochenendes ist: Mein Kind und ich – zwei Welten?! An die Wand projeziert ist das ganze Wochenende die Himmelsleiter von Jim Warren. Wie gern würden wir alle diese hinaufsteigen, um wieder bei unseren Kindern sein zu können. Unsere Kinder sind so weit weg und doch ganz nah. Wir hier – sie dort! Es ist so traurig und unfassbar.

In der ersten Runde stellen wir in dem sehr nett vorbereiteten Raum, in dem wir die Bilder unserer Kinder aufstellen und Kerzen anzünden, zuerst einmal uns und unser Kind vor. Das fällt nicht leicht, und es ist auch traurig, die Erlebnisse der anderen Betroffenen zu hören.

Abends dann werden wir sehr gut beköstigt und der entspannende Teil findet im Kaminzimmer statt, den wir für uns ergattern können. Hier finden sehr nette Gespräche statt und wir lernen die anderen und vor allem ihre Kinder, unsere Sternenkinder, besser kennen. Es wird viel gelacht. Das tut so gut.

Am nächsten Tag geht es nach dem Frühstück mit der Befindlichkeitsrunde los. Thema an diesem Morgen ist „Lebensweg – Trauerweg“. Hierzu bekommen wir alle eine Treppensprosse, die wir mit dem Namen unseres Kindes und was immer uns sonst noch wichtig ist, gestalten. Dann heften wir diese auf eine Leiter.

Somit sind alle unsere Kinder und unsere Gefühle, die wir mit ihnen verbinden, ganz nah beieinander. Die Sprossen sind sehr unterschiedlich beschriftet und gestaltet und doch sagen alle das Gleiche aus – nämlich, dass uns unsere Kinder unendlich fehlen.

Auch sprechen wir an diesem Morgen den Namen unserer Kinder vor der Gruppe aus und diese wiederholt den Namen. Wir sind überhaupt nicht für diese vorgegebenen Dinge, die man als Gruppe aussprechen soll und am liebsten würden wir uns gegen ein Mitmachen entscheiden. Aber was dann geschieht, damit haben wir nicht gerechnet. Die Gruppe wiederholt den Namen von NILS und das ist so schön, dass es uns zum Weinen bringt.

Auch ein Kennenlernspiel wird an diesem Tag gespielt, das uns alle in Bewegung bringt und Spaß macht, was aber letztendlich dazu führt, dass wir mal wieder hinsehen, wer wir eigentlich selber sind.

Was macht uns aus, wer sind wir als Individuum? Dieser Hinweis darauf, dass wir uns selbst nicht aus dem Blick verlieren dürfen, dass wir nicht nur trauernde Eltern sind, sondern dass jeder von uns wichtig ist und auch bei sich selbst bleiben sollte, ist schon sehr wichtig. Man vergisst zwischendurch, was mache ich gerne, was möchte ich noch, wer bin ich eigentlich? Denn die Trauer füllt uns oft total aus.

Anschließend sind Postkarten ausgelegt mit den unterschiedlichsten Abbildungen von Wegen. Jeder sucht sich eine heraus, die ihn besonders anspricht und schildert hierzu seine Gefühle. Das war schon sehr beeindruckend zu hören, wo jeder Einzelne im Moment steht und was ihn berührt.

Am Nachmittag hören wir einen wissenschaftlichen Vortrag über den Nahtod. Es ist nicht immer leicht Herrn Michael Schröter-Kunhardt zu folgen, aber die Botschaft, die er vermitteln will, ist, dass der Nahtod uns auf das Leben danach vorbereiten möchte. Das ist schon sehr tröstlich.

Abends geht’s dann wieder ins Kaminzimmer, auch dieses Mal haben wir das Glück, dass wir dieses für uns einnehmen können. Jetzt, wo man sich untereinander schon besser kennt, wird die Runde noch mal so gut.

Am Sonntag kommt dann leider schon wieder Abschiedsstimmung auf. Aber wir dürfen uns auch noch auf den kreativen Teil freuen – nämlich Kerzen zu gestalten. Das ist eigentlich gar nicht unser Ding, aber – wir hatten Spaß dabei und alle Kerzen sind sehr schön geworden. In uns allen steckt mehr als wir denken. Und im Zusammenhang mit unseren Kindern fällt uns anscheinend immer was Gutes und Liebevolles ein. Das wirkt sich sehr auf die Gestaltung unserer Kerzen aus. Nebenbei hatten wir richtig viel Spaß zusammen.

Nachdem wir dann die Hymne für unsere Kinder singen (Bridge Over Troubled Water), die uns alle zu Tränen rührt, laufen wir zum Feld hoch und schicken unseren Kindern Luftballons mit unseren Wünschen und alles, was uns bewegt. Ein sehr bewegender Moment.

Auch die Texte, die in diesen Tagen vorgelesen werden, sind sehr schön, beschreiben genau unsere Gefühle und rühren oft zu Tränen.

Aber wir haben das Gefühl, dass ganz viele ungeweinte Tränen in uns sind und es ist befreiend. Der Alltag ist so stressig und wir kommen nicht mehr dazu, die Trauer, die uns immer bewegen wird, zu leben. Außerdem will das ja nun auch keiner mehr wirklich wissen.

Zum guten Schluss —

An diesem Wochenende waren wir unseren geliebten Sternenkindern sehr, sehr nahe.

Die Entscheidung zu diesem Treffen zu fahren, war genau richtig und hat uns, auch als Paar, gut getan. Auch Michael, der es als Mann nicht leicht hat, in der Männerwelt seine Trauer zu leben, hat dieses Wochenende sehr gut getan.

Wir haben uns sehr gut aufgehoben gefühlt. Wir hatten den Eindruck, dass Tina, Bodo und Ute uns alle immer sehr gut im Blick hatten und jederzeit für uns da gewesen wären, um uns beizustehen, uns aufzufangen, alles was wir gebraucht hätten zu erfüllen.

Wir danken euch dreien für dieses toll vorbereitete und so nette, bereichernde Wochenende.

Wir grüßen euch alle!!

Michael und Agnes

mit Nils ganz tief im Herzen

Unsere Eltern mit den Namen unserer Kinder:

Stehend: Marita (Sarah), Bodo, Toni (Nino), Heike (Oliver), Ute (Jörg), Ursel (Michi), Petra (Anja), Dagmar (Nino), Paul & Brigitte (Dirk), Willi (Inken), Tina (Yannis), Michael (Nils), Susanne & Stefan (Yannik), Uschi (Julius), Agnes (Nils), Katrin (Markus), Bernhard (Julius)
Knieend: Horst (Stephanie), Michael (Michi), Anke (Thorsten), Josette (Nicole), Christa (Inken), Marita (Stephanie)

Liebe Agnes, lieber Michael: Ihr habt dieses besondere Erlebnis mit euch allen so wundervoll beschrieben, herzlichen Dank dafür!
Tina, Ute & Bodo

Alle Bilder © Copyright „Leben ohne Dich“