6. Kennenlerntreffen

Rückblick aus der Sicht einer „neuen“ Mutter

Bereits zum sechsten Mal hatten Tina und Bodo, die Initiatoren des inzwischen gegründeten Vereins „Leben ohne Dich“ e.V. zu einem Kennenlerntreffen, vom 4. bis 5. September 2004, ins Sauerland eingeladen.

Für ca. die Hälfte der insgesamt 24 Eltern wurde es zur spannenden ersten Begegnung mit anderen Betroffenen, die man bisher nur durch Texte, oder namentlich, auf den LoD-Seiten erleben konnte. Alle anderen freuten sich auch auf eine Wiederbegegnung im vertrauten Kreis.

Aus den schnellen, virtuellen Datenbahnen wurden nun bis zu 600 km lange mühsame Autobahnen oder Schienenwege, auf denen Eltern aus der Schweiz, Berlin, München, Nürnberg, Marburg, aus Richtung Karlsruhe und dem Ruhrgebiet, mit ihren toten Kindern im Verborgenen, nach Attendorn reisten.

Wie begegnet man sich, wenn Wiedererkennen nicht möglich ist, die Wartenden noch namenlose Fremde sind? Angeheftete Namensschilder halfen zunächst sich vorsichtig anzusprechen. Noch fehlten die Namen der Kinder, die uns eigentlich hierhergeführt hatten.

Ein Kreis mit Stühlen umschloss eine Sonne auf einem blauen Tuch. Dort konnte man die Namen der Kinder lesen. Strahlen waren sie, wie sie es für jeden von uns, für kurze oder lange Zeit, im Leben sein durften.

18 Strahlen zeigten ins Unbestimmte, trafen uns dabei auf ihrem Weg. All diese wunderbaren Kinder spürte man nacheinander im Kreis, wenn ihre Eltern ihnen mit Tränen, bewegten Stimmen und Gesten eine Gestalt gaben. Ein Licht wanderte dabei von Hand zu Hand.

Es war gut, am Ende des beliebig langen Erinnerns, für jedes verlorene Leben eine Kerze bei den Kinderstrahlen anzuzünden. Im Raum wuchs mit diesem Leuchten die Kraft, die wir brauchten, um danach aufzustehen und aus dem Schutz des Kreises aufzubrechen. Nun gelang es uns auch besser, uns zu erkennen. Unsere Kinder waren unsere Vermittler, schlossen Lücken.

Kleine gemeinsame Rituale wurden möglich, Botschaften für die Ballonreise in den Himmel für jedes verlorene Kind vorbereitet, Gedichte und Texte zum Leben und zum Tod gelesen. Gefäße für Blumen für jedes Kind bemalt und Briefe zum Erinnern an die durchlebten Gefühle und Gedanken, adressiert an uns selbst, geschrieben als Versuch, Wandlung deutlich zu machen.

Mit bewegten Stimmen sangen wir laut oder lautlos „Bridge Over Troubled Water“, ein Song, der für viele von uns eine besondere Bedeutung bekommen hat.

Eine Zeit lang wurde dem weiblichen und dem männlichen Trauern ein separater Raum gegeben. Vielleicht hilft das Vätern und Müttern, sich besser zu verstehen, toleranter miteinander zu sein. Kleine Veränderungen erfahren wir jeden Augenblick beim Reden, Zuhören, Begreifen oder Nachspüren.

Durch die ausgesprochene Liebe zu unseren Kindern konnten wir dann in den Pausen, beim gemeinsamen Essen, oder am Abend im Kaminzimmer, leichter miteinander umgehen. Leise und laute Gespräche, Scherzen und Lachen waren zu hören. Warm war nicht nur das Feuer im Kamin.

Kurz wurde die Nacht für einige von uns. Kein verunsicherter, kritischer Blick störte. Alle kannten hier die belastenden Momente unseres Lebens nur zu gut, die der Rest der Nacht oder der kommende Tag unausweichlich bringen würde. So war er immer wieder präsent, der unbeschreibbare Schmerz. Ungefragt war er da, im Kreis um die Sonnenstrahlen, in der zwanglosen Runde.

Hände und Gesten sprachen behutsam von wohltuender Anteilnahme und Verstehen.

Am Sonntag Mittag wölbte sich draußen über uns ein blauer Himmel. „Eins, zwei, drei…“ unsere Kartengrüße schwebten gemeinsam hinauf, zufällig begleitet vom Läuten der Glocken aus dem nahen Ort.

Ob die Luftballons wohl ihr gewünschtes Ziel erreicht haben? Oder bist du in der Nähe, geliebte Seele, geliebter Engel. Unser Sehen und Denken ist so begrenzt. Wer konnte wohl den sehnsüchtigen bunten Himmelsbotschaften in die unendliche Weite folgen? Unser Glauben? Ich bin ratlos, aber nicht allein.

Es war nicht einfach, nach so einem anstrengenden Wochenende nach Hause zu fahren, wieder in die Normalität des Alltags zu wechseln. Der Abschied von neuen oder alten Bekannten fiel nicht leicht. Mehr Zeit wäre gut gewesen.

Doch es gibt ja die Datenautobahnen mit dem guten Gefühl, wertvollen und liebenswerten Menschen begegnet zu sein, die nun ein Gesicht haben und die Chance, sich wieder zu treffen.

Unsere Eltern (von hinten links):

Ute (Jörg), Ina (Johanna), Sandra (Jan-Erik+Julius), Urs (Kevin), Pierre(Fynn),
Dagmar + Wolfgang (Julia), Evelyn (Constanze), Denise + Martin (Kevin), Dennis (Fabian), Andrea (Chiara), Sepp (Jean-Pierre), Peter (Sabrina), Peter (Lena), Bodo (Yannis),
Karin (Daniela), Ingrid (Susi), Carmen (Fabian), Tina (Yannis), Angelika (Steffi), Hildegard (Franz)

Vielen Dank, liebe Evelyn, für diese sehr tiefe und zu Herzen gehende Schilderung Deiner Eindrücke. Tina & Bodo

Einen Zeitungsartikel von Wolfgang zum Treffen findet Ihr hier.

Alle Bilder © Copyright „Leben ohne Dich“