Karlsruher Sonntagszeitung vom 24.11.2002

Wenn der Tod Eltern allein zurücklässt

Oft kommt der Tod plötzlich. Er überrascht mit seiner Brutalität die Angehörigen so sehr, dass sie noch nicht einmal mehr einen kurzen Moment des Abschiednehmens haben. Manchmal aber auch lässt sich der Tod Zeit, Monate, gelegentlich sogar Jahre, bis er dem Erkrankten auch den letzten, bereits sehr dünn gewordenen Lebensfaden abschneidet. Oft hatten die Verstorbenen nur wenige Jahre zum Leben: Vom gerade geborenen Säugling bis zum jungen Erwachsenen in einem Alter von Mitte 20 reicht die Spannbreite der toten Kinder, die zunehmend auch im Internet betrauert werden. Das weltweite Netz scheint sich zu einem Ort auch für Trauerarbeit zu entwickeln, Trauerarbeit, die Eltern, Geschwister, Freunde und Bekannte leisten müssen.

Während Hinterbliebene bisher oft vor der Frage standen, wie sie mit ihrem für außen Stehende unfasslichen Schmerz umgehen sollen (von fertig werden kann selbst Jahre nach dem Verlust eines Kindes noch gar nicht gesprochen werden), stellt der inzwischen in vielen Haushalten angekommene Computer mit Internetzugang da wohl einen möglichen Ansatz dar. Auf etlichen verschiedenen Homepages, die zumeist von Privatinitiativen betrieben werden, wird getrauert: Da stellen Angehörige die Fotos ihrer Kinder ins Netz ein, sie schreiben Gedichte dazu, sie lassen andere Menschen, die ähnlich Schreckliches erlebt haben, an ihrer Trauer teilhaben. Das Wichtigste dabei ist aber der Dialog. Über geschützte Zugänge, die den Betroffenen den Grad an Anonymität erlauben, den sie sich selbst wünschen, werden Gedanken ausgetauscht und – das lässt sich in den Diskussionsforen anhand der Zeitprotokolle ablesen – oft stundenlange nächtliche Dialoge am Computer geführt.

Eine solche Homepage ist auch „www.leben-ohne-dich.de“. Betrieben wird sie von einem Ehepaar aus Mühlheim an der Ruhr. Die Frau verlor ihr Kind durch Krankheit, traf sich zunächst mit Schicksalsgenossinnen und einer Pfarrerin. Im April 2001 ging die Gruppe dann ins Internet – mit einer überwältigenden Resonanz. Zwischen 5000 und 10000 Besucher verzeichnet „www.leben-ohne-dich.de“ jeden Monat. Dazu kommen noch die für die Betreiber nicht kontrollierbaren „privaten“ Kontakte direkt zwischen Betroffenen, die sich hier erst kennengelernt haben. Viele „stille“ Leser seien unter denjenigen zu finden, die das Angebot regelmäßig auswählen, wissen die Betreiber. „Stille“ Leser: Das sind oft Menschen, die den Weg in eine Therapiegruppe scheuen, die zunächst einmal nicht über ihr Leid sprechen könnten. Die könne man gezielt erreichen, heißt es, und oft würden sie sich dann auch an den „Gesprächen“ via Internet beteiligen.

Auf den Unterseiten von „www.leben-ohne-dich.de“ sind die Schicksale festgehalten, anonym, aber mit Bildern, die nur jenen etwas sagen, die die so jung Gestorbenen tatsächlich gekannt haben. Erschütternd sind die Gedichte, die den kleinen Toten per Internet „zugesandt“ werden. „Mein Herz und meine Gedanken sind immer bei Euch, meine Engel, Ihr wisst, wie sehr ich Euch geliebt habe und immer noch liebe“, schreibt eine Mutter. Eine andere Frau vergleicht den Tod ihres Kindes mit der Demontage eines Mobiles, aus dem man eines der Gewichte entfernt hat und bei dem man sich jetzt darum bemüht, das Gleichgewicht wieder herzustellen. Leid, Trauer und ein Schmerz, der nicht zu bewältigen scheint, sprechen fast aus jedem Wort. Ein Vater widmet seinem toten Jungen den Liedtext „Tears in Heaven“ von Eric Clapton: Der erst fünfjährige Sohn des Rockstars war in New York aus einem Hochhausfenster gefallen, sein Vater hatte versucht, mit den „Tränen im Himmel“ über den Verlust hinwegzukommen. Trost – soweit es diesen für Eltern verstorbener Kinder überhaupt geben kann – kommt von den Mittrauernden: Zu einigen Gedichten gibt es Antworten direkt an die Betroffenen.

„Leben-ohne-Dich“ betreibt seit einiger Zeit auch eine „Geschwisterecke“. Hier kommen die Brüder oder Schwestern zu Wort, die sich plötzlich eines jungen Familienmitglieds beraubt sehen. Der Gedanke dabei: Eltern finden noch eher ein Forum oder einen Gesprächskreis, in den sie ihre Trauer hineintragen können. Bei Geschwistern ist das nicht so. Die Idee für die „Geschwisterecke“ hatte die Schwester eines Jungen, der mit sieben Jahren an Hirnhautentzündung erkrankte und nach Wochen quälender Behandlungen starb. Unmittelbar vor der Umsetzung steht auch ein „Väterforum“: Männer trauern ganz anders als Frauen und müssen deshalb auch anders „angesprochen“ werden, wissen die Betreiber. Sie geben auch zu bedenken, dass nach dem Tod eines Kindes die meisten Beziehungen an diesem Verlust scheitern.

Jedem jungen Toten ist eine Art virtueller Grabstein gewidmet. Wird dieser Stein, nur versehen mit dem Vornamen des Kindes oder des jungen Erwachsenen, angeklickt, öffnet sich dem Betrachter das Leben des Verstorbenen – aber eben nur soweit, wie es die Angehörigen wollen. Zumeist sind hier Bilder zu finden, oft von gerade geborenen und gleich im Krankenhaus verstorbenen Säuglingen. Der plötzliche Kindstod schlägt ebenso unbarmherzig zu wie Krebserkrankungen, die Kinder getroffen haben. Das Schicksal hält überall seine grausame Ernte: Eben noch mit dem eigenen Pferd auf einem fröhlichen Ausritt unterwegs, verunglückt eine junge Frau nur zwei Kilometer vom Reiterhof entfernt mit ihrem Auto. Eine Elfjährige verabschiedet sich morgens normal in die Schule, bricht dort aber mit einer Blutung im Kopf zusammen, die sie wenig später das Leben kostet. Die Eltern gestatten die Organentnahme – und erlauben so die Rettung ihnen fremder Menschenleben. Ein Vater betrauert den Tod seines nur 26 Jahre alt gewordenen Sohnes – er starb vor zwei Jahren beim Brand der Gletscherbahn im österreichischen Kaprun. „www.leben-ohne-dich.de“ überlässt allen trauernden Eltern einen Platz für ihren Schmerz: „Ein Mensch bleibt immer das Kind seiner Eltern, auch wenn er als junger Erwachsener stirbt“, wird das offene Konzept erklärt.

Kaum zu erfassen ist der Schmerz jener Eltern, die ihre Kinder durch eine Gewalttat verloren: Eine junge, fröhliche Studentin wird von ihrem Freund ermordet – für ihre nächsten Angehörigen, aber auch für ihre Bekannten ist die Tat unbegreiflich und deshalb das Leid kaum zu (er)tragen. Einer Mutter werden ihre beiden kleinen Kinder „geraubt“, weil der Vater sie in ihren Bettchen umbringt – erst im Internet findet die Frau Worte, mit denen sie sich an andere Eltern wenden kann. Bringt diese Form der Auseinandersetzung mit dem Thema Tod die Eltern weiter? Eindeutig, sagen die Betreiber. Denn obwohl sie auf Fachleute wie Psychologen verzichten (diese aber in bedrohlichen Krisen der Trauernden zu vermitteln suchen), erleben sie es häufig, dass aus den Trost suchenden Menschen allmählich Trostspender für Andere werden: Ein hoffnungsvolles Zeichen des Erfolgs.

„Leben-ohne-dich“ geht auch den Weg über das Internet hinaus. Schon zwei Mal gab es so genannte „Kennenlerntreffen“, bei denen an einem Wochenende an einem abgeschiedenen Ort auch persönliche Gespräche geführt wurden. Symbolische Akte wie das Anfertigen eines Tuches oder einer Sonne mit den Namen der toten Kinder wechselten mit dem Dialog gleichermaßen Trauernder. Und immerhin: Zum Schluss der Treffen wurde auch schon mal gelacht – vielleicht ein erstes zaghaftes Zeichen für eine erfolgreiche Trauerarbeit. Achim Winkel

Neue Form der Trauerarbeit im Internet
Jedes Jahr sterben 5000 Kinder unter 16 Jahren. Zwei Drittel von ihnen waren noch nicht einmal ein Jahr alt. Ältere Kinder erleiden häufig tödliche Verkehrsunfälle. Aber auch Erwachsene Menschen, die vielleicht selbst schon eine eigene Familie gegründet haben, bleiben immer „Kinder“ ihrer Eltern, die vom zumeist überraschenden Tod in eine bisher nie gekannte seelische Notlage gestürzt werden. Im Internet gibt es inzwischen einige virtuelle „Gesprächskreise“, die aber einen späteren persönlichen Kontakt nicht ausschließen:
www.leben-ohne-dich.de
www.sternenkinder-web.de
www.lalelu-homepage.de
www.engelskinder.de