Nürnberger Nachrichten vom 26.06.2004 (Lokalzeitung für den Landkreis)

Am 1. Juli erstes Treffen der Selbsthilfegruppe von Eltern, die ein Kind betrauern

„Amputiert – aber jetzt auf Reha“

Initiatorinnen Hildegard Kreutzer und Luzie Pöhlmann – „Miteinander reden, schweigen, weinen“

ALTDORF – „Es ist schwer, einen geliebten Menschen zu verlieren“, heißt es in vielen Traueranzeigen. Aber nichts ist mehr wie vorher, wenn es sich dabei um das eigene Kind handelt – egal wie alt es war. Der Schock, dass der Sohn oder die Tochter vor einem geht, kann in vielen Fällen nur mit Hilfe anderer überwunden – wenn auch nicht wirklich geheilt – werden. Große Unterstützung können hier Fachleute bieten – oder Menschen, die sich in der gleichen Situation befinden. Hildegard Kreutzer in Altdorf hat vor eineinviertel Jahren ihren 18-jährigen Sohn Franz verloren und ruft nun eine Selbsthilfegruppe für Eltern, die den Tod eines Kindes betrauern, ins Leben.

„Leben ohne Dich“ heißt der Verein, dem sich Hildegard Kreutzer angeschlossen hat, als sie selbst nach Hilfe bei der Bewältigung des schweren Schicksalsschlags gesucht hat. Es handelt sich dabei um eine Selbsthilfegruppe für Eltern, die ein Kind verloren haben. Und unter diesem Motto möchte sie nun betroffenen Eltern und auch anderen Menschen, die zuhören können und Hilfen geben wollen, anbieten, einmal im Monat zu einem Treffen zu kommen. An jedem ersten eines Monats trifft man sich um 20 Uhr im evangelischen Gemeindehaus am Schlossplatz – zum ersten Mal nun am Donnerstag, 1. Juli -, um „gemeinsam den Tod des Kindes leben zu lernen“, wie es in einem Flyer heißt.

Ganz wichtig ist es Hildegard Kreutzer, den Interessierten zu versichern, dass der Besuch der Gruppe zu nichts verpflichtet. „Es darf geschwiegen werden, zugehört, geweint und vor allem geredet“, verspricht sie, weil sie aus Erfahrung weiß, dass das Bedürfnis, immer und immer wieder über das tote Kind zu reden, riesengroß ist.

„Man stellt alles in Frage“

Der Weg von der völlig verzweifelten Mutter, die unvorbereitet vor die Tatsache gestellt wurde, dass sich ihr Sohn ohne jede erkennbare Vorwarnung das Leben nahm, hin zu einer Frau, die aus ihrer persönlichen Erfahrung heraus aktiv Hilfe für andere und sich sucht, ist von unterschiedlichen Stadien gekennzeichnet: „Zunächst stellt man alles in Frage und setzt sich mit dem ganzen Leben auseinander“, erinnert sie sich. Das Unfassbare ist allgegenwärtig und man beschäftigt sich permanent damit. Doch das gemeinsame Trauern in der Familie mit dem Mann und den drei Geschwistern des verstorbenen Sohnes war nicht genug, weiß sie heute.

Im Internet informierte sie sich über den Verein „Verwaiste Eltern“ und über AGUS, eine Interessengemeinschaft von Angehörigen von Menschen, die durch Suizid aus dem Leben geschieden sind. Schließlich stieß sie auf LoD – „Leben ohne Dich“, einem Internetforum mit einer virtuellen Pinnwand, wo sie „alles runterschrieb“, was sie bewegte. Das half.

Unersetzlich waren aber auch die persönlichen Kontakte. Um die Eltern, den Lebenspartner könne man trauern und diesen Verlust irgendwann überwinden, „doch dass das Kind vor den Eltern geht, ist eben nicht normal“. Gut taten daher der Besuch des Pfarrers, die Tröstungsversuche von Freunden. In der Kirche ging Luzie Pöhlmann auf sie zu, die anders als manche Bekannte, keine Berührungsängste so kurz nach dem schrecklichen Ereignis hatte. Als Mitglied im Kirchenvorstand, in der Mexikohilfe und als langjähriger Krankenhaus-Besuchsdienst liegt es ihr besonders zuzuhören und auch mal in den Arm zu nehmen.

Sie war es auch, die Hildegard Kreutzer schließlich ermutigte, die Selbsthilfegruppe für trauernde Eltern zu initiieren. „Du bist jetzt so weit“, hat sie ihr ein Jahr nach dem Tod von Franz Mut zu diesem Schritt gemacht. Das sieht die 49-Jährige ebenso. Zwar habe sie nach wir vor das Gefühl, seit dem Verlust ihres Kindes „amputiert“ zu sein „und der Phantomschmerz wird immer bleiben“. Doch mittlerweile fühle sie sich immerhin „wie auf Reha“.

Bei Dekan Peter Huschke fragte Pöhlmann nach Räumlichkeiten und rannte dort im wahrsten Sinne des Wortes offene Türen ein. Sofort wurde ein Raum im Gemeindehaus zur Verfügung gestellt, so dass das Angebot bereits nächste Woche starten kann.

Weil man dennoch nicht ganz auf therapeutische Hilfe verzichten will, wird auch die Theologin und Psychotherapeutin Ortrun Griebel zumindest bei den ersten Treffen mit anwesend sein, denn manche der Eltern, deren Kinder nicht mehr leben, sind stark suizidgefährdet. „Jeder hat den starken Wunsch, mit seinem Kind wieder zusammen zu sein“, erklärt sie. „In einem solchen Fall den richtigen Weg zu finden, das können wir nicht leisten“, weiß auch Luzie Pöhlmann. Trost spenden dagegen, zum Beispiel wenn die eigenen Schuldgefühle wieder einmal übermächtig zu werden drohen, oder eben reden und zuhören – das sind die Aufgaben, die sich die betroffenen Laien selber stellen.

Kreutzer und Pöhlmann betonen die Offenheit der Treffen vor der ersten Zusammenkunft am 1. Juli. So ist es egal, auf welche Weise oder wann das Kind gestorben ist, wie alt es war und wie stark sich die betroffenen Eltern selber engagieren möchten. Auch Interessierte, die gern helfen wollen und nicht selbst betroffen sind, sind eingeladen, denn die Brücke von der trauernden Mutter bzw. dem trauernden Vater zu den „Außenstehenden“ zu schlagen, ist oft schwer, besonders dann, wenn man die Eltern wieder „auf andere Gedanken bringen“ möchte und die noch lange nicht soweit sind.

Doch ohne Verständnis von außen wird das Weiterleben noch schwerer, berichtet Hildegard Kreutzer und zitiert Erika Bodner, die in einer vergleichbaren Situation ihre Umwelt bat: „Gestattet uns unseren Weg, der lang sein kann. Drängt uns nicht, so zu sein wie früher, wir können es nicht.“

GISA SPANDLER