Salzgitter-Zeitung vom 02.03.2004

Tod eines Kindes

Salzgitter. „Tod = Eine Bruchstelle, kein Ende“ schrieb einmal Ernst Jünger. Jeder, der einen geliebten Menschen verliert, wird den deutschen Schriftsteller verstehen können. Wer stirbt, hinterlässt eine Wunde, die zwar mit der Zeit verheilt, deren Narbe aber immer wieder zu spüren ist. Ein besonderer Verlust ist es, wenn Eltern ein Kind verlieren. Wenn auf einmal der Mensch fehlt, in den alle Liebe, Kraft und Hoffnung investiert wurde – wenn nicht mehr da ist, was einem mehr am Herzen liegt als das eigene Leben. Dennoch: Der Tod eines Kindes bedeutet nicht den Tod der Hinterbliebenen. Sie müssen lernen, mit der neuen Situation weiterzuleben. Doch genauso wie eine Narbe an bestimmten Tagen besonders schmerzt, verschwindet auch das Gefühl der Trauer nie ganz. Es wohnt in den Betroffenen wie ein ungebetener Gast, der immer da ist und von Zeit zu Zeit lauthals randaliert. Und mit ihm zu leben, das ist die Herausforderung.

„Ganz tief unten gibt es nur Steffi, die Trauer und mich“

An einem normalen Tag verändert sich das Leben von Angelika Busch für immer: Ihre Tochter stirbt an einer geplatzten Ader im Kopf

Von Valea Böhm

Salzgitter. Ein wenig dunkel ist es in der Küche. Am Tisch sitzt Angelika Busch. Vor ihr Kaffee und Zigaretten. Klein ist sie, fast zierlich. Ihr Blick wandert zu einer Wand mit Kinderfotos. Besonders viele zeigen ein Mädchen. Ein Mädchen mit dunkelblonden Haaren, das in die Kamera lacht. Zwei Kerzen flackern unruhig, erhellen den Raum. „Irgendwo im Haus brennt immer eine Kerze für Steffi“, sagt Angelika Busch mit fester Stimme.

Stefanie. Steffi. Sie war Angelika Buschs einzige Tochter. Ihr ein und Alles. „Wir waren immer ein Team, immer zwei gegen vier,“ erzählt die 42-Jährige. Die anderen vier, das sind ihr Mann Harry (42) und die drei Söhne Daniel (23), Patrick (22) und Phillip (9).

Vor drei Jahren, am 19 Februar, kommt das Unheil über Familie Busch. So unerwartet, so plötzlich.

Eigentlich ein Sekundentod

„Der Tag war ganz normal, Steffi ist fröhlich zur Schule gegangen, hat sich auf die bevorstehende Mathearbeit gefreut“, erzählt Angelika Busch und schaut gedankenverloren aus dem Fenster. Gegen Mittag erhält die Mutter einen Anruf von der Schule: Steffi sei mit einem Schrei zusammengebrochen, in der Pause, zwischen ihren Freundinnen. Angelika Busch fährt zur Schule, trifft mit dem Krankenwagen ein.

„Als ich ankam, war Steffi noch ansprechbar, hat mich noch gesehen. Aber ich habe gemerkt, dass da etwas nicht stimmt, ich habe ihre Angst erkannt.“ Abwechselnd schreit Steffi vor Schmerzen, ist dann wieder ganz ruhig. „An einer Straßenkreuzung hat sie gesagt: ich sterbe.“

Es sind die letzten Worte, die Angelika Busch von ihrer Tochter hören sollte. „Ich habe ihr gesagt, so schnell stirbt man nicht, aber sie hat es gewusst“, erzählt sie. Im Klinikum wird eine Computer-Tomographie von Steffis Kopf gemacht. Was auf dem Bild zu sehen war? „Blut, eine Hälfte des Gehirns war voller Blut. Eine Ader war geplatzt. Einfach so. Eigentlich ein Sekundentod. Eigentlich“, erinnert sich die Mutter. Bei Steffi werden die Sekunden zu Tagen.

Das Kind muss künstlich beatmet werden, wird zur Notoperation nach Göttingen geflogen. Die Eltern kommen nach, warten auf das Ergebnis: „Uns wurde gesagt, es könnte drei bis vier Stunden dauern, aber Steffi war schon nach zwei Stunden wieder auf dem Zimmer“, sagt Angelika Busch und hält inne: „Das ging mir zu schnell.“

Im Gespräch teilt der Arzt den Eltern mit, dass Steffi die Nacht wahrscheinlich nicht überleben werde. Für Angelika Busch sind das Worte, die sie nicht glauben kann, nicht glauben will: „Ich habe nur gefragt: „Wie soll ich ohne meine Tochter leben?“

Die Eltern brechen zusammen. Es folgt eine Zeit, in der Harry Busch nächtelang weint, seine Frau aber nicht wahrhaben mag, was geschieht: „Ich hatte immer mehr Hoffnung, als der Arzt mir zugesprochen hat. Er sah eine minimale Chance, ich eine riesengroße“. Sie schickt ihren Mann nach Hause, damit jemand für die Söhne da ist, aber auch, „weil ich Ruhe für Steffi brauchte“.

Mittags geht Steffi endgültig

Das kleine Mädchen wird noch einmal Operiert. Angelika Busch geht in das Zimmer ihrer Tochter und sieht, dass der Hirndruck von 18 auf 34 gestiegen ist. „Ich habe noch gedacht, das ist ja nicht viel.“ Aber der Arzt nimmt ihr diesen Irrglauben, erklärt, dass der Gehirntod eingetreten sei. „Das war der Moment, indem mir klar wurde, dass ich sie verloren habe. Man weiß es, aber man versteht es nicht“, sagt sie stockend.

Noch zwei Tage müssen die Eltern in dieser Ungewissheit leben, mit einer Tochter, die eigentlich tot ist – und doch noch lebendig erscheint.

An einem Montag geht Steffi endgültig. Mittags um zwölf Uhr und drei Minuten. Ihre Organe werden gespendet. Nur die Augen nicht, die durften Steffi nicht genommen werden. „Sie muss doch gucken können“, sagt Angelika Busch, schaut auf die Bilder an der Wand und wischt sich die Tränen aus den Augen.

Nach der Beerdigung beginnt für Familie Busch die Zeit der Trauer, in der sie versucht, diese unverständliche Situation zu verstehen. „Man kapiert schnell, dass einem niemand helfen kann. Jeder trauert für sich allein“, sagt die Mutter leise.

Der Alltag kommt nicht zurück. Den gibt es nicht mehr. „Wir haben nur funktioniert – über Wochen.“ Und funktionieren muss die Familie, schon allein für ihren jüngsten Sohn Phillip. Der ist damals erst sechs. Da braucht man eine Mutter, einen Vater, Stabilität. „Für Phillip war es besonders schlimm, er leidet bis heute noch. Steffi war die Hand die ihn immer gehalten hat“, erzählt Angelika Busch und ergänzt: „Für Geschwister ist es besonders grausam. Sie verlieren auch immer einen Teil der Eltern, weil wir nicht mehr die sind, die wir mal waren.“

Von Verwandten erfährt die Frau von einer Selbsthilfegruppe für verweiste Eltern in Salzgitter: „Leben ohne Dich“ heißt sie. Hier erhält Familie Busch Hilfe. „In der Gruppe kann ich sein, wie ich bin. Ich kann Weinen, muss meinen Schmerz nicht verbergen“, erklärt sie. Denn nur Betroffene verstehen die Gefühle der Eltern, verstehen, dass der Schmerz über den Verlust des Kindes nicht verschwindet, dass eine Sehnsucht bleibt.

Immer allein in der Trauer

Aber war nicht das erste Jahr das schlimmste? Heilt nicht die Zeit einwenig die Wunden? „Nein ,im Gegenteil“, erzählt Angelika Busch ruhig.“ Das schlimmste Jahr ist dieses, das dritte. Im ersten Jahr habe ich es gar nicht verstanden, im zweiten habe ich den Verlust verarbeitet, und jetzt erst habe ich realisiert, dass Steffi wirklich nicht wiederkommt.“

Manchmal, da sei sie so tief unten, da wünscht sich Angelika Busch nichts lieber, als einzuschlafen und den Schmerz nicht mehr zu spüren. Denkt sie in solchen Momenten nicht an ihre Jungs? „Nein, sagt sie. „Wenn ich ganz tief unten bin, dann gibt es meine Jungs nicht – nur Steffi, die Trauer und mich. Dann kann mir keiner helfen.“

Und doch: Angelika Busch versucht den Alltag wieder in den Griff zu bekommen, beginnt – so scheint es – langsam wieder mehr zu tun, als nur zu funktionieren: „An manchen Tagen, wenn es mir gut geht, backe und koche ich wieder. Das habe ich früher gern getan. Denn ich werde immer Trauern, aber die Tage werden Lebbarer werden“, erzählt die Mutter, und ihr Blick wandert erneut zu den Fotos an der Wand, zur Tochter, die einmal war – und immer sein wird.