WAZ-Artikel vom 07.05.2003 (Lokalausgabe Mülheim)

„Unsere toten Kinder sind immer in uns“

Leben ohne Dich hilft Eltern mit verstorbenen Eltern

Von Jörn Stender

Sie haben den Schritt aus der Anonymität hinaus gewagt. Und heraus aus der einsamen Trauer. Auch Leid lässt sich besser teilen, Freunde sowieso – bei Leben-ohne-Dich, der Selbsthilfegruppe für Eltern, die ein Kind verloren haben.

Fünf Frauen sitzen um den Wohnzimmertisch, unterhalten sich munter. Fünf Kerzen flackern auf einem Beistelltisch, dazwischen steht ein Kinderfoto. Etwas unscharf. Von einem mageren Neugeborenen. Und so ganz anders als all die gängigen, herzigen Babybilder. Beate B. hat das einzige Bild, das sie von ihrem Sohn Noah hat, aufgestellt. Vor zwei Jahren kam er im siebten Monat zur Welt. Tot.

„Das Foto“, sagt Beate B. bestimmt, „zieht mich nicht runter. Es ist das einzige, was ich von meinem Kind habe. Mir ist das wichtig und es tut mir gut“. Und so steht Noah neben den Fotos seiner Geschwister, die er nie kennen lernen durfte.

Und so brennen Kerzen für die lebenden und die toten Kinder.

„Jeder entwickelt seine eigene Art zu trauern. Aber eine Erinnerungsecke“, sagt Gerdi R., „die habe ich mir auch eingerichtet“. Jennifer, die Tochter, starb mit 24 Jahren an einem Hirntumor. 23 Jahre alt wurde Patrick, ihr Sohn. 2002 hatte er einen tödlichen Unfall. Die Fotos ihrer Kinder hat sie in ihrer Tasche – und viel auf der Seele. Wie die anderen Frauen.

Da ist Silvia R. Ihre Tochter Fabienne ist vor 22 Monaten gestorben – bei einer Herz-OP. Die Mutter ist hochschwanger und sitzt, wie sie gesteht, „auf einer Achterbahn der Gefühle“ mit viel „Angst und Vorfreude“.

Da ist Angelika S. Zweieinhalb Monate wurde ihr Sohn Selim alt, vor siebeneinhalb Monaten starb er. „Plötzlicher Kindstod“ lautete die erschütternde Diagnose für die Eltern. Und da sitzt Tina H. Mit 5 wurde bei ihrem Sohn Yannis eine unheilbare Krankheit festgestellt. Mit 7 Jahren starb er – nach einem langen Klinik-Leidensweg.

Verlust verbindet die Frauen, die gemeinsamen Erfahrungen, das Hoffen auf Verständnis. Und das Wissen: „Wir müssen Öffentlichkeit schaffen und uns selbst bewegen. Andere tun es nicht“. Allen fehlt in der persönlich größten Krise „eigentlich alles. Die Informationen vom Arzt, der Klinik, vom Bestatter.“ Im Schmerz allein. Und dann ist da noch die selbst gewählte Isolation: „Ich habe ein Jahr gebraucht, um mit Außenstehenden über den Tod meines Kindes zu reden“, sagt Silvia R. Sich öffnen, Hilfe suchen. Ein schwerer Gang. Und offenbar noch schwerer für die Männer. „Die finden seltener ein Ventil für ihre Gefühle“. Und: „Zuerst denkt man ja, man schafft es allein. Du bist doch nicht bekloppt, dass du zum Psychologen musst“.

Die Monatstreffen, sie sind für einen festen Kreis Anlaufstelle geworden. „Viele sagen, sie hatten vorher Angst. Fragen sich: Was passiert da mit mir? Und manchen fällt es extrem schwer, sich einzulassen. Da fließen viele, viele Tränen, aber mir“, sagt eine Mutter und spricht für alle, „hat das gut getan. Die Kinder sind dabei, sie sind immer in uns, in unseren Gedanken. Sie sind immer Thema und wir können über sie reden, ohne das Gefühle zu haben, du langweilst dein Gegenüber“.

Das haben alle Mütter erlebt. Erst die Sprachlosigkeit in ihrem Umfeld, viel Anteilnahme, aber dann auch irgendwann die Grenzen, die gezogen werden bei der Trauer – von anderen. „Auf: Jetzt muss es doch gut sein, das Leben geht weiter oder du bist ja noch so jung, du kannst bestimmt noch ein Kind bekommen, reagieren wir allergisch“, meinen sie.

Die Hilfe, die Ansprache – sie wird so angenommen, als hätten die Betroffenen darauf gewartet. Nach einem allerdings zähen Start vor fast drei Jahren. „Monatelang saßen wir nur zu zweit bei unseren Treffen“, sagt Tina H. Das Internet als Forum, es brachte den Durchbruch. Im Monat verzeichnen wir 15.000 Zugriffe.“ Leben und Leid von toten 90 Kindern wurden festgehalten, der Chatroom ist Begegnungsstätte, betreut wird die Seite von Tina H. Ein Stück Lebensinhalt ist das Ehrenamt für sie geworden. Und manchmal Bürde. „Dann fühle ich mich total überfordert und wünsche mir mehr Unterstützung von professioneller Seite“.

Ballons und innige Worte für ihre toten Kinder schicken die betroffenen Eltern beim Kennenlern-Treffen gen Himmel.

Die www-„Anonymität“ ist wichtig. „Aber irgendwann reicht das nicht mehr. Dann will man die anderen auch treffen“, sagt Beate B. Und so gab es drei Kennenlern-Wochenenden. Am letzten nahmen 27 Eltern von 19 verstorbenen Kindern teil. Ihre Schicksale verbinden. „Das ist ein Gefühl, als würde man die Menschen schon lange kennen“, sagt Gerdi R. „Äußerlichkeiten sind da unwichtig. Da ist sofort Vertrautheit“.

www.leben-ohne-dich.de
Treff: 08. Mai, 20 Uhr, Diakonie, Kettwiger Str. 3