WAZ-Artikel vom 13.12.2003 (Gesamtausgabe)

Linus an der Hand und Leif im Herzen

Familie B. aus Haltern verlor vor einem Jahr ihr Kind
– Lebenslichter am dritten Advent.

Von Annika Fischer, WAZ Haltern

Zum dritten Advent entzünden Familien auf der ganzen Welt am morgigen Sonntag noch eine weitere Kerze. Sie stellen sie in ihr Fenster, damit alle sie sehen: Lebenslichter für ihre toten Kinder. Eine Lichterkette der Liebe, die nicht stirbt.

Leif ist einfach nur hingefallen. Er hatte gespielt, nicht einmal getobt, er war nicht geklettert, nicht gerannt – er ist gestürzt, nichts weiter. Man sah auch nichts, kein Blut und keine Schramme, aber er hatte Bauchschmerzen danach. Und auf dem Weg zum Arzt sagte Leif, fünf Jahre alt, zu seiner Mama: „Ich glaub, ins Legoland schaff ich’s nicht mehr.“ Der „kleine Weise“, Zugpferd im Gespann eines Zwillingspärchen, starb, weil nach inneren Blutungen sein Kreislauf zusammenbrach. Das war am 30. Oktober vor einem Jahr.

Der Tod ist tabu in der Gesellschaft, der Tod eines Kindes wird noch lieber totgeschwiegen und war für Béatrice und Lars B. aus Haltern noch nicht einmal eine Ahnung. Albträume gab es wohl, Eltern kennen das und sind froh, morgens aufzuwachen mit dem Wissen: „Es ist nicht wahr.“ Für B.s aber kam der Albtraum am helllichten Tag, und das Aufwachen war nie mehr einfach froh seither. Es hat sich alles verschoben, nichts ist mehr wie vorher, dabei wünschen Menschen sich das mit aller Macht. „Es bleibt alles anders“, sagt Lars B., 37.

Das ist nicht leicht zu verstehen für die anderen, für Freunde und Nachbarn, mancher verwechselt Mitleid mit Mitgefühl, hofft auf Verdrängen, gar Vergessen. Doch B.s können nicht vergessen, sie wollen es nicht: Der Tod hat ihr Leben verändert. Zum Jahrestag des Unglücks verschickte die Familie eine bunte Karte: „Leif liebte…“ steht darauf, sie zeigt in bunt sein Kuscheltier, „coole Autos“ und das Fahrrad und dass B.s weiterleben mit ihrem Jungen. Er hat eine Lücke hinterlassen, die nie zu schließen ist, da bleibt ein Stuhl frei bei jeder Mahlzeit, eine Hand beim Spaziergang und am Nikolaustag ein Stiefel. Aber trotzdem wächst Leif weiter in dieser Familie, am ersten Schultag seines Bruders war auch Leif ein i-Männchen, „es ist, als sei er da“, sagen die Eltern. Leif bleibt das Kind von Lars und Béatrice ihr Leben lang, und Linus bleibt immer ein Zwilling.

Linus, vielleicht, ist besonders getroffen: „Er hat seinen Bruder verloren, und seine Eltern sind nicht mehr dieselben“, sagt der Vater. Doch Linus stand für das Leben in der Familie, nachdem der Tod seinen Zwilling geholt hatte, „im Vergleich zu ihm waren wir Memmen voller Selbstmitleid“. Béatrice und Lars B. suchten vergeblich Hilfe bei Institutionen, fanden sie schließlich bei der Selbsthilfegruppe „Leben ohne Dich“ in Mülheim. Bei anderen betroffenen Eltern fanden sie Trost, lernten das Trauern und wieder das Leben: „Wir durften ja nicht noch das zweite Kind verlieren.“ Niemals wollen sie von Linus den Vorwurf hören: „Ich konnte nicht Kind sein, Ihr habt immer nur getrauert.“

Sie werden morgen eine Kerze ins Fenster stellen, zu den Fotos ihres Jungen, der aus so vielen Bilderrahmen lacht. Sie reihen sich ein in die Lichterkette rund um die Erde, aber sie wollen dem Tag auch nicht zuviel Bedeutung geben, wie Weihnachten dem Geburtstag, dem Todestag. „Wenn man zu sehr in Daten denkt, kommt man noch schwerer durchs Jahr“, sagt Béatrice B., 35. Es sind zu viele. Und für Leif brennt in Haltern ohnehin immer eine Kerze. Sie flackert vor der Haustür hinter Glas, ein tapferes Licht im Dunkeln. Es weiß ja keiner wirklich, ob es ein Leben gibt nach dem Tod, ob eine kleine Seele da draußen um die Erde fliegt, aber die Kerze ist eine Botschaft: „Hier sind wir, immer noch und für dich da!“

Der sechsjährige Linus hat seinen ersten Wunschzettel geschrieben in diesem Jahr, er wünscht sich ein Skateboard und lauter Spielzeug. „Ich wünsche mir Leif zurück“, schrieb er nicht. „Für Linus ist sein Bruder gestorben“, sagen B.s, „und er ist traurig darüber.“ Ihm fehlt der starke Bruder, Unerwartetes wirft ihn heute schneller aus der Bahn. Kinder denken nicht abstrakt, auch die Eltern grübeln nicht: Was wäre wenn? „Das bringt Leif nicht wieder.“

Hätten sie die Wahl gehabt, damals in der Schwangerschaft – ein gesundes Kind oder zwei, von denen eines nach fünf Jahren gehen muss? Diese Frage haben sie sich gestellt, aber es war keine. „Wir sind für jede Minute mit ihm dankbar.“ Und wenn heute einer wissen will von Mutter oder Vater: „Wie viele Kinder haben Sie denn?“ Dann hat Lars B., Linus an der Hand und Leif im Herzen, auch darauf nur die Antwort: „Zwei.“

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